Wer sich über mich ärgert, sollte immer bedenken, welch unsagbar schlimme Kindheit ich hatte.

Ich hatte beispielsweise kein Handy (nicht nur nicht das neueste Modell, sondern wirklich GAR KEINES!) und Internet hatte ich leider auch nicht.
Zur Schule sowohl hin als auch wieder zurück musste ich zu Fuß laufen, ich wurde nicht tagtäglich mit dem Auto direkt vor mein Klassenzimmer gefahren und dort auch wieder abgeholt. Meine Eltern haben es vermutlich nicht eingesehen, dass 2 Tonnen Auto für den Transport eines Kindes zur Schule in Bewegung gesetzt werden müssen. Wobei mir gerade einfällt, die Autos in meiner Jugend waren viel kleiner, vielleicht also nur ein wenig über eine Tonne. Könnte aber auch daran gelegen haben, dass wir in unserer ganzen Armut nur ein Auto hatten, mit dem mein Vater zur Arbeit gefahren ist. Außerdem gab es vor meiner Schule eh nur einen Busparkplatz und keine zusätzlichen Stellplätze für die damals nicht existenten Helikoptermütter. 
Vermutlich habe ich die ganzen Jahre diesen täglichen Schulweg nur mit unsagbar viel Glück überlebt.

Auch nach der Schule stand uns kein Eltern-Taxiservice zur Verfügung, es gab entweder für kurze Strecken bei Wind und Wetter, Sommer wie Winter das Fahrrad - oder für Ziele ein wenig weiter weg die Bahn. Ja, zu meiner Zeit war das übrigens noch so, dass sogar beim öffentlichen Nahverkehr die Züge pünktlich, also so wirklich nach Fahrplan fuhren.

Zum Spielen stand uns auch kein Spielplatz mit endlos Spielgeräten zur Verfügung, welche pro Gerät mindestens 10 Sicherheitszertifikate hatten - bei uns auf dem Spielplatz gab es einen Sandkasten und eine Schaukel. Wenn einer beim Schaukeln herunterfiel, ging das nicht wie heute auf eine butterweiche Gummidämm-Matte, sondern so richtig auf Kies. Wir hatten keinen Fußballplatz, wir sind auf eine Wiese zum Kicken gegangen, rundum mit Hecken und Stacheldraht, wir sind auf Bäume geklettert und haben im Sommer im Bach gebadet. Wenn wir mal auf die Schnauze geflogen sind, dann heilte das überraschenderweise meist von selbst, ohne das wir in Sagrotan etc. gebadet hätten oder uns gar jemand wegen kleiner Schnitte oder Schürfwunden zum Krankenhaus geschleppt hätte.

Wir waren damals so arm, wir konnten uns nicht mal eine Laktoseintoleranz oder eine Glutenunverträglichkeit leisten. Geschweige denn einen schicken Doppelnamen wie Jeremy Pascal oder Finn Torben.
Einen Namensaufkleber des Nachwuchses auf der Heckscheibe des Autos gab es selbstverständlich auch nicht. Unsere Eltern mussten uns in der ganzen Not noch ohne Hilfsmittel mit Namen kennen. Das hat aber auch ganz gut geklappt, denn sie sahen uns ja auch oft genug, weil es keine Ganztagsbetreuung in der Schule gab und wir nicht nur zum Abendessen und Schlafen zu Hause bei ihnen waren.
Selbst die Ernährung der Kinder mussten in diesen sonderbaren Zeiten die Eltern noch selbst übernehmen. Da gab es tatsächlich haufenweise Mütter und manchmal bei den ganz mutigen sogar ein paar Väter, welche das historische Ritual des "Kochens" noch ausgezeichnet beherrschten und sogar auch so gut wie täglich durchführten!

Und dann noch die ungeheure Umweltzerstörung in unserer Jugendzeit - einfach Wahnsinn. Recycling gab es damals ja noch gar nicht, Sprudel-, Milch- und Bierflaschen gaben wir an den Laden zurück, in dem wir sie gekauft hatten. Von dort gingen sie an den Hersteller, der die Flaschen wusch, sterilisierte und wieder neu befüllte, sodass jede Flasche unzählige Male benutzt wurde. 

Für Gemüseeinkäufe (igitt, wirklich unverpacktes, loses Gemüse...) mussten wir Einkaufsnetze benutzten, für den Resteinkauf unsere Einkaufstaschen. Alternativ packte uns der Händler den Einkauf in braune Papiertüten, die wir zu Hause für viele Zwecke weiter verwendeten, z.B. als Schutzhülle für die Schulbücher, die uns von der Schule unter der Auflage, dass wir sie gut behandeln, kostenlos zur Verfügung gestellt wurden. Nach Beendigung des Schuljahres wurden sie wieder eingesammelt und in gutem Zustand an den nachfolgenden Jahrgang weiter gereicht.

Wir stiegen Treppen hoch, denn Aufzüge oder Rolltreppen gab es nicht. Wir Kinder gingen fast jeden Tag zu Fuß die paar Schritte zum nächsten Lebensmittelgeschäft (Bäcker, Kramer etc.) und auch unsere Eltern benutzten dazu keinen 300 PS starken Geländewagen. Die Wäsche wurde nach dem Waschen nicht in einen Strom fressenden Wäschetrockner gegeben, sondern mit Wind auf der Wäscheleine getrocknet. Die Kleidung meines älteren Bruders ging stets an mich weiter, denn neue Kinderkleidung für 2 Kinder konnten sich meine Eltern nicht immer leisten. Im Haus hatten wir ein einziges Radio und einen kleinen Fernseher (Schwarz-Weiss, also wirklich 2c) mit einem Bildschirm in Taschentuchgröße. Und in der Küche gab es neben dem Herd so gut wie keine elektrischen Maschinen, also auch keinen Geschirrspüler! Und ja, das war ein besonderer Tag, als ein elektrisches Handrührgerät bei uns Einzug gehalten hat!

Dass ich das ganze zumindest körperlich einigermaßen irgendwie überstanden haben, grenzt schon an ein Wunder. Noch viel mehr verwunderlich erscheint es heute, dass meine Eltern da niemals Probleme deswegen mit dem Gesetz bekommen haben - u.A. Stichwort Kinderarbeit auch wg. Gartenarbeit, Einkaufsdienst, Putzdienst, Küchendienst und vielen anderen Tätigkeiten.

Als Polstermaterial für Päckchen oder Pakete durften wir alte Zeitungen benutzten, kein schickes Styropor oder Plastik, das wäre ja auch viel zu teuer gewesen. Der Rasenmäher wurde mit der Hand geschoben, machte keinen Krach und keinen Gestank. Das war Fitnesstraining, weshalb wir keine Fitnessstudios mit elektrischen Laufbändern und anderen Energie fressenden Unsinn benötigten. Das Wasser tranken wir aus der Wasserleitung und benötigten keine Plastikflaschen. Irgendwelche Zucker-Limonade egal in welcher Verpackung war bei uns zuhause so oder so verboten. Und die leeren Schreibfüller wurden wieder mit Tinte gefüllt, anstatt neue zu kaufen.

Aber Umweltschutz, sowas gab es zu meiner Zeit nicht - was leider der Grund dafür ist, dass die heutige junge Generation all das ausbaden muss, was damals bei uns so komplett schiefgegangen ist.

Damit wir Kinder den Umgang mit Geld früh und selbstständig lernen, gab es ab dem 12. Geburtstag DM 20.- als Taschengeld. Das war damals sehr viel Geld (entspräche inflationsbereinigte heute etwa € 66.-) und natürlich habe ich im ersten Monat alles für Süss-Kram etc. rausgehauen - bis ich gelernt habe, das alles an Extras, für das ich bisher immer nur ein nettes Gesicht machen musste, ab sofort vom Taschengeld zu kaufen ist.

Hat deswegen dann auch nur noch sehr kurz gedauert, bis ich angefangen habe, Werbe-Zeitungen bei uns im Dorf auszutragen, um mir meine "Extras" zu finanzieren. Werde ich nie vergessen, meine ersten Einkäufe von meinem ersten, selbstverdientem Geld war eine Blue-Jeans und eine Automatik-Uhr. Jeans gab es nämlich nicht von meinen Eltern, und eine Automatik-Armband-Uhr war sowas von überflüssig, man kann ja eine Armband-Uhr auch von Hand aufziehen...

Ab meinem 14. Geburtstag habe ich dann angefangen, in den Sommerferien immer für 4 Wochen ganztags in einer Druckerei im nächsten Dorf 20 km entfernt zu arbeiten. Jeden Tag, immer mit dem Fahrrad, bei Wind und Wetter - hat aber gut funktioniert, war ja ausreichend trainiert vom Austragen der Zeitungen.

Heute ist das zum Glück alles ja gar nicht mehr vorstellbar! Wo sollte das denn auch enden? Die Learn-Life-Balance der Jugendlichen steht dem ja entgegen.

Wer nun aber so aufwächst, der muss ja auch zwangsläufig einen Schaden davontragen. Also habt Nachsicht mit mir. Ich für mich bin ja schon froh, dass ich bei all diesen Missständen überhaupt überlebt habe und nicht bereits früh gestorben bin.